Das Interview, Hanix 75: Das Andere der Freiheit: Sucht und Abhängigkeit

Das Interview, Hanix 75: Das Andere der Freiheit: Sucht und Abhängigkeit

Interview: Hanix
Foto: Nico Kurth

Hanix unterhielt sich im »Großen Interview« mit Robert Prager, Oberarzt der Klinik für Suchttherapie im Klinikum am Weissenhof, Weinsberg, über das Andere der »Freiheit«, über das Thema »Abhängigkeit«.

Für uns heute ist »Freiheit« eine zentrale Qualität unserer Lebensführung. Darunter verstehen wir, dass wir frei sind, immer wieder zu tun, wann und wie wir es wollen. Wir können uns unsere Produkte immer wieder frei wählen, unsere Partnerschaften immer wieder frei gestalten und immer wieder das Auto unserer Wahl fahren. Ich kann immer wieder auf Partys eskalieren und bei »Netflix und Chill« mir immer wieder reinpfeifen, was ich will. Sind wir wirklich in diesem »immer wieder« so autonom und souverän, so unsterblich und für immer jung? Was ist mit meinen Prüfungen? Was mit meiner Lebensplanung? Halte ich dem Erwartungsdruck meiner Umgebung, unserer Umwelt stand?


Hanix: Herr Prager, Sucht, Abhängigkeit sind Formen der Beziehung. Was ist Sucht, oder was ist Abhängigkeit eigentlich?

Robert Prager: Sucht beziehungsweise Abhängigkeit ist definiert nach der internationalen Klassifikation der Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation, da sind alle psychiatrischen Krankheiten im Kapitel F niedergelegt. Da gibt es das Kapitel-F1, und dort sind die Abhängigkeits- oder Suchterkrankungen dargelegt. Eine Abhängigkeit ist definiert als Vorhandensein von »Craving«, zu Deutsch »Suchtdruck« oder, dem unwiderstehlichen Drang, ein Suchtmittel zu konsumieren. Nummer zwei ist die sogenannte Toleranzentwicklung. Das heißt, man gewöhnt sich an den Suchtmittelkonsum, und man möchte möglicherweise, weil der Körper das Suchtmittel besser und schneller verstoffwechselt, eine größere Menge des Suchtmittels haben, um den gleichen, ursprünglichen Effekt zu erzielen. Das kennen wahrscheinlich alle Menschen. Man fängt einmal an mit einem Radler, und irgendwann einmal reicht einem das Radler nicht, dann werden zwei oder drei Radler daraus, irgendwann ist es kein Radler mehr, sondern dann ist es schon Bier, und so steigert sich die Menge, um eben den gleichen, gewünschten Effekt zu erzielen. Das dritte Kriterium zur Definition einer Abhängigkeit ist das körperliche Entzugssyndrom. Wenn bei einem Menschen Entzugssymptome vorliegen, dann ist das ein Kriterium zur Diagnose einer Abhängigkeit. Das vierte Kriterium wäre der Kontrollverlust. Kontrollverlust bezieht sich einerseits auf den Beginn des Suchtmittelkonsums, man kann nicht mehr kontrollieren, wann man anfängt. Ein klassisches Beispiel wäre: Am Anfang geht es los mit dem typischen Feierabendbier und irgendwann einmal kann man es eben nicht mehr kontrollieren und beginnt dann eben schon tagsüber zu trinken. Kontrollverlust bezieht sich aber auch auf die Beendigung des Suchtmittelkonsums: Ich kann meinen Konsum nicht mehr stoppen. Und wenn ich Beginn und Ende des Konsums nicht mehr kontrollieren kann, dann verliere ich auch die Kontrolle über die Konsummenge. Also ich kann mir jetzt nicht vornehmen: »Heute Abend trinke ich ein Bier und dann ist Schluss«, sondern, wenn ich das erste Bier getrunken habe, dann erreiche ich einen vollständigen Kontrollverlust und trinke quasi bis zur Besinnungslosigkeit weiter. Ein weiteres Kriterium wäre der anhaltende Konsum. Anhaltender Konsum trotz eindeutiger negativer Folgen ist laut der internationalen Klassifikation der Krankheiten so definiert, dass die negativen Folgen gesundheitliche Folgen sein sollen. Das heißt, dass man irgendwelche körperlichen Folgeschädigungen durch den Suchtmittelkonsum erleidet oder psychisch-geistigen Schädigungen durch den Suchtmittelkonsum erleidet. In unserer gängigen Diagnostik ist dieses Kriterium ausgeweitet, dass man sagt, dass es auch negative Folgen eben nicht nur im gesundheitlichen Bereich gibt, sondern eben auch im privaten, im persönlichen, im sozialen Bereich, möglicherweise auch juristische Konsequenzen hat. Und das letzte Kriterium ist ein Und-Oder-Kriterium. Das ist einerseits der Interessenverlust zugunsten des Suchtmittelkonsums und/oder der erhöhte Zeitaufwand für den Suchtmittelkonsum. Beim Alkohol ist das keine ganz große Sache: Man gehe zur nächsten Tankstelle, besorge sich drei Flaschen Bier und gehe wieder nach Hause. Beim Drogenkonsum ist es natürlich möglicherweise etwas schwieriger. Das ist doch ein gewaltiger Zeitaufwand. Und wenn also entweder die bisherigen privaten Interessen zugunsten des Suchtmittelkonsums verloren gehen oder aber ich aufgrund meines Suchtmittelkonsums gar keine Zeit mehr habe, anderen privaten Interessen nachzugehen, dann wäre eben dieses Kriterium erfüllt. Das sind also sechs Kriterien für das Vorliegen eine Abhängigkeit. Und ICD-10 sagt dann weiter, dass innerhalb des vergangenen Jahres, also innerhalb der letzten zwölf Monate, mindestens drei von diesen Kriterien bei einer bestimmten Person vorgelegen haben müssen, um diese Person dann als abhängig zu klassifizieren. Tatsächlich ist es so, dass Abhängigkeit vermutlich eine lebenslange Diagnose ist. Man geht also davon aus, dass wenn man einmal suchtkrank war, man dann möglicherweise tatsächlich ein Leben lang eine Abhängigkeit hat. Tatsächlich ist es natürlich so, dass viele Menschen ihre Suchterkrankung, ihre Abhängigkeit, durchaus auch überwinden können, also suchtmittelfrei leben können. Nichtsdestotrotz leiden die Betroffenen häufig lange Zeit, viele Jahre, manchmal sogar lebenslang unter den Folgen und Konsequenzen. Das wäre also jetzt die Definition der Abhängigkeit. Tatsächlich ist eine Suchterkrankung etwas Fließendes. Also von einem normalen Genusskonsum geht es hin zu einem riskanten Alkoholgebrauch.

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